Hauptsache: Seiten
29. November 2011
DER SPIEGEL rettet das Seitenkonzept in die Bildschirm-Ära. Auf Teufel komm raus! Bloß kein neumodisches Scrollkonzept für das klassische Spiegel-Magazin. In der iPad-App mag das noch halbwegs funktionieren, denn hier ist – abgesehen von den beiden Variablen Schriftgrad und Bildschirm-Orientierung – noch halbwegs klar, wie das Konsummedium aussieht.
Nun gibt es den wöchentlich erscheinenden Spiegel als neuartige Web-App für den normalen Desktop-Browser. Er ersetzt damit die PDF-basierte ePaper-Ausgabe. Und das ist auf den ersten Blick eine gute Sache. Niemand hat Spaß beim Lesen eines Print-PDFs am Bildschirm. Der Schritt zu einem HTML-basierten Magazin-Reader ist begrüßenswert!
Doch warum müssen es schon wieder nach unten geschlossene Seitenlayouts zum »Blättern« sein? Abgesehen davon, dass automatisiert berechnete Seitenlayouts nie mit manuell gestalteten Layouts mithalten können, haben wir mit dem Zielmedium »Desktop-Browser« ein extrem ungenaues Medium mit sehr vielen Unbekannten, dass die Aufteilung des Inhalts deutlich erschwert.
Der Spiegel hat sich für eine fixe maximale Breite von 1072px entschieden. Der eigentliche Inhalt nimmt 1026px(!) fließt automatisch im üblicherweise dreipaltigen Textlayout. Und die Höhe? Nun ja, die Höhe. Es gibt ja eigentlich keine fixe Höhe im Webdesign, weil sie extrem unterschiedlich sein kann. Hier wird lustig per Javascript der Text eines Artikels neu umflossen, je nach aktueller Höhe des Browserfensters. Mal besteht ein Artikel aus sieben Einzelseiten, mal nur aus fünf. Manchmal verschwinden auch Infos, wenn der Viewport arg niedrig ist.
Normales Scrolling ist streng untersagt. Sogar das Scrollrad wird per JavaScript gekapert und führt zu horizontalem Umblätter-Scrolling. (Oliver Reichenstein weint sich heute abend sicher in den Schlaf, wenn er diese Medien-Vergewaltigung sieht.)
Es ist ja durchaus ein respektables Bedürfnis, die Website »SPIEGEL ONLINE« vom Magazin »DER SPIEGEL« abgrenzen zu wollen. Aber wenn etwas im Browser stattfindet, will ich doch bitte ein browsergerechtes Erlebnis haben. Und dazu gehört vertikales Scrolling und ein Layout-Konzept, das nach unten offen ist und nicht per angeschraubtem Pseudo-Umblättern krampfhaft die Tote-Baum-Welt zu simulieren versucht.
Damit man mich nicht falsch versteht: Der Spiegel-Reader ist natürlich besser und mediengerechter als reine PDFs oder die unsäglichen Flashpapers. Er performt auch (unter Chrome) sehr gut und ist grundsätzlich gut lesbar. Aber wenn man schon den Schritt zu einer HTML-»Applikation« macht, sollte man auch neu über das Umblättern nachdenken. Diese Sache mit dem Scrollen macht gar nicht so viel Aua wie die Printleute immer denken.
… und hier noch ein Interview mit Spiegel-Chef Blumencron