Die Musik von Turrican
2. April 2018
Man kann Chris Hülsbeck wahrlich nicht vorwerfen, er kümmere sich nicht engagiert genug darum, sein musikalisches Vermächtnis für die Nachwelt zu erhalten.
Wir schreiben die frühen Neunziger Jahre, und Hülsbeck ist auf dem Zenit seines Primärschaffens angekommen. Neben zahlreichen anderen Videogame-Soundtracks sind insbesondere alle drei Teile der populären Turrican-Reihe für den Amiga erschienen und man munkelt, dass sich viele Gamerinnen die Titel nur wegen der Begleitmusik gekauft haben. Überhaupt der Amiga! Dieser Rechner dürfte sich für Hülsbeck inzwischen wie eine Art angewachsenes Klangerzeugungsorgan anfühlen, so intim sind seine Kenntnisse über die technischen und musikalischen Fähigkeiten des verbauten Soundchips. Auch der kreative Output seit den Achtzigern war beträchtlich: die Anzahl der Kompositionen allein für die Turrican-Reihe liegt bei über 100 Tracks, wenn man Endboss-Clips und Jingles mitzählt. Halbwegs vollständige Song-Arrangements liegen bei ca. 30 Stücken. Der Komponist schafft es wie kaum ein anderer, aus dem Fiepen und Quäken des 16-Bit-Computers Melodien und Harmoniesprünge zu kreieren, die einer ganzen Gamerinnen-Generation ans Herz wachsen. Die Gassenhauer sind allerdings gegen 1993 alle bereits geschrieben, und mit dem End Of Life des Amigas endet auch die erste Popularitätswelle des Turrican-Soundtracks.
Doch Hülsbeck wollte schon immer ein bisschen mehr. Bereits 1991 erschien seine erste studioproduzierte CD Shades, die mit einem 15-minütigen Medley des ersten Turrican-Spiels in gepflegtem Heimorgel-Synthieklang aufwartet. Gut zwei Jahre später gibt es weiteres Material aus den Nachfolgetiteln Turrican II und Turrican 3 – Zeit für eine weitere Studio-CD! Der Original Video Game Soundtrack von 1993 enthält 15 weitere Titel, deren Arrangements mal kaum, mal deutlich vom Amiga-Original abweichen. Auch dieses Album klingt aus heutiger Sicht eher lasch und künstlich, inklusive uninspiriert vor sich hindudelnder E-Gitarren. Aber hey – der druckvolle Eurodance-Sound der Neunziger, von dem sich Chris Hülsbeck allerdings stets distanzieren wollte, war schließlich auch gerade erst in der Entstehung.
Es wurde dann einige Jahre stiller um die Turrican-Musik. Mitte der Nuller Jahre jedoch werden dann erstmals die orchestralen Qualitäten der Kompositionen erkannt und im Rahmen der Symphonic Game Music Concerts ausgelebt: Bei einigen der von 2003 bis 2007 in Leipzig stattfindenden Gamescon-Konzerte können die Besucher Highlights aus der Spieleserie für das große Symphonieorchester genießen.
Aus dem gleichen Produzenten-Dunstkreis um Thomas Böcker entsteht im Jahr 2008 das Symphonic Shades-Konzert in Köln. Hier widmen sich WDR Rundfunk Orchester und Chor ausschließlich Chris Hülsbecks Musik. Das Turrican-3-Theme erklingt als Suite für Solo-Piano, und mit dem großen Orchester werden verschiedene Motive aus Turrican II auf recht extravagante Weise interpretiert. Dieses Konzert gibt es als hübschen Live-Mitschnitt – es ist jedoch insgesamt eher als Sammelsurium zu verstehen, nicht als homogenes Gesamtwerk.
Schön und gut, aber da geht noch was! So denkt sich Chris Hülsbeck einige Jahre später und stellt ab 2012 mit einer ganzen Reihe von Kickstarter-Kampagnen unter Beweis, dass seine Fans auch 20 Jahre nach Erscheinen der Turrican-Trilogie noch bereit sind, Geld für die Aufbereitung der Musikstücke auszugeben.
Als erstes steht eine komplett neu im Studio produzierte Anthologie auf dem Programm, die auf vier Audio-CDs erscheint und sämtliche längere Kompositionen aus Turrican, Turrican II, Turrican 3, Super Turrican und Super Turrican 2 enthält. Der Sound ist diesmal reichhaltiger und deutlich erwachsener als auf den ersten Soundtrack-Versuchen von 1991 und 1993, aber das Grundprinzip bleibt erhalten: die Stücke bleiben relativ werktreu und orientieren sich grob am Arrangement und Klang der Amiga- bzw. SNES-Version, kommen mit zusätzlichen E-Gitarren daher, versuchen aber immer noch nicht, aktuelle Dance- oder Pop-Musik nachzuahmen, was eigentlich spannend ist – läge die Versuchung doch so nah! Für die Fans von Symphonic Shades ist auch neues Material mit dabei, nämlich ein episches, weniger experimentelles Turrican-II-Medley, abermals mit großem Orchester und Chor des WDR.
Diese Anthologie hätte das endgültige musikalische Erbe sein können, aber einmal mit dem Kickstarter-Virus angefixt, geht es Ende 2014 munter weiter mit der sogenannten Piano Collection, in der Pianist Patrick Nevian 18 vermischte Hülsbeck-Klassiker (in bewährter Shades-Manier) auf dem Klavier einspielt und die dazu passenden Noten auch gleich zum Nachspielen mitliefert. Selbstverständlich dürfen dabei auch zwei Stücke aus dem Turrican-Kosmos nicht fehlen. Aus meiner Sicht hätte es dieses Album allerdings nicht zwingend gebraucht – die Klavierumsetzungen plätschern mir bisweilen arg gefällig durchs Ohr, ich hatte den einen oder anderen Richard-Clayderman-Moment, und das verheißt nichts Gutes.
Doch wir kehren zurück zum symphonischen Sound! Bisher gab es immer nur vereinzelte Turrican-Highlights und Medleys für die große Besetzung, was den Ehrgeiz von Chris Hülsbeck vermutlich angestachelt hat. Im Jahr 2016 gibt er deshalb noch einmal Gas und sammelt auf Kickstarter Geld für eine umfassendere Klassik-Produktion, das Turrican II – The Orchestral Album. Diesmal nicht mit dem WDR, sondern mit dem Symphonieorchester Norrköping. Das Ergebnis ist eine wirklich fantastische Produktion, die insbesondere durch das meisterhafte Arrangement von Roger Wanamo besticht. Er findet zielsicher die richtige Mischung aus Werktreue und abwechslungsreichen, sich dynamisch entwicklenden Spannungsbögen, die nur ein großes Orchester – wenn auch diesmal ohne Chor – in so überzeugender Weise hinbekommt. Zehn Stücke sind es, allesamt handverlesen aus dem Turrican-II-Fundus. Mein persönliches Highlight ist die wunderbar zarte Oboe am Anfang von The Great Bath, und wie sich das Stück dann langsam zu einer hinreißend epischen Hymne entwickelt.
Und weil das alles so schön war, findet im Jahr 2017 das Gleiche noch einmal statt, diesmal für die restlichen Perlen aus Turrican 1 und 3, ebenfalls zehn Stücke, ebenfalls mit dem Orchester aus Norrköping: Turrican – Orchestral Selections. Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, arbeiten dieses Mal sieben verschiedene Arrangeure an der Umsetzung. Trotzdem entsteht kein Chaos, sondern ein in allen Aspekten ebenbürtiges Schwesteralbum, das nun unbedingt als Gesamtwerk anzusehen ist. Man kann nun fasziniert zuhören, wie beispielsweise eine Komposition wie Air Combat sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hat, und nun so etwas wie einen finalen Ritterschlag erhält.
Keine Frage: Chris Hülsbeck hat sich und der Turrican-Musik mit all diesen Produktionen selber ein fettes Denkmal gesetzt. Allerdings darf man nicht vergessen, was für eine sympatische und im Grunde bescheidene Figur er dabei macht. Er wirkt als Mastermind im Hintergrund, kommuniziert engagiert mit den Fans, knüpft die Connections, kennt aber genau seine Grenzen. Insbesondere wenn es um die Orchesterarrangements geht, überlässt er das Feld den Profis, da er genau weiß, dass das Erfinden von Melodien und Programmieren von SID-Chips eine andere Kunst ist als das Aufsetzen einer amtlichen Orchesterpartitur aus wahrhaft exotischem Rohmaterial.
Und mit Blick zurück auf das Jahr 1993 kann man nur sagen: Chapeau! Chris Hülsbeck hat innerhalb von gut drei Jahren eine Fülle an Musiktiteln für ein vermeintlich kulturloses „Ballerspiel“ geschaffen, welche 25 Jahre später im hochkulturellen Kontext immer wieder neu interpretiert werden. Hände hoch, wer das nicht beeindruckend findet!