Titillium
19. Januar 2010
Wenn man hören würde, dass in einem Typografiekurs an einer Kunsthochschule eine neue Schriftfamilie entsteht, die locker mit einigen modernen kommerziellen Familien mithalten kann, würde man normalerweise denken, dass diese Kunsthochschule in Holland stehen würde. Tut sie aber nicht! Es handelt sich um einen Kurs an der CampiVisivi, einer Kunsthochschule in Urbino, einem Örtchen unweit von Florenz. Als Kursleiter zeichnete Luciano Perondi verantwortlich, der unter anderem auch als Autor auf dem Schriftportal Typotheque untwerwegs ist.
Das Ziel des Kurses war die Erstellung und die Veröffentlichung einer Schrift unter der OpenFont-Lizenz, und um es gleich vorweg zu nehmen: Die Studenten haben ganze Arbeit geleistet! Auf der Website zur Schrift gibt es leider nur wenig Text (Und den dann auch noch auf Italienisch), dafür jedoch ein paar nette Skizzen und Fotos vom Entstehungsprozess der Schrift. Erschienen sind die ersten Schnitte Ende 2008, jedoch betrachten die Macher das ganze als großes Mitmachprojekt – Jeder Designer ist herzlich eingeladen, die Quelldateien herunterzuladen, den Font zu erweitern oder zu verbessern und auch auf der Plattform wieder hinaufzuladen, wie sich das für ein Open-Source-Projekt gehört.
Charakteristik
Die Titillium ist eine sehr moderne serifenlose Schrift, die einen gewissen konstruierten Charme besitzt, ohne freilich wirklich konstruiert zu sein. Die Formen erinnern zum einen an die abgerundeten Ecken einer Eurostile, aber zum anderen findet man auch gewisse Ähnlichkeiten zur FF Typestar, natürlich ohne den Schreibmaschinen-Look. Insgesamt eine sehr schicke und zeitgemäße Formensprache mit konsequenter, aber unaufdringlicher Ausprägung.
Bei den Buchstabenformen sticht keine so richtig aus dem Rahmen, wenn ich auch sagen muss, dass ich ein großer Fan des kleinen g bin. Obwohl das zugegebenermaßen bei sehr vielen Schriften der Fall ist …
Insgesamt macht das Schriftbild einen guten und halbwegs ruhigen Eindruck. Die Großbuchstaben stechen eventuell ein wenig zu deutlich hervor, aber insgesamt ist das alles extrem sauber und gut gemacht. Die Lesbarkeit und allgemeine Lesegeschwindigkeit ist naturbedingt nicht ganz so gut wie bei komplexer gestrickten (Serifen-)Schriften – es fehlen die kleinen visuellen Haken, die die Typen unterscheidbarer machen und somit prägnantere Wortbilder entstehen lassen.
Umfang/Ausbau
Nachdem bereits der Entwurf der Schrift kaum zu bemängeln ist, freut sich der Schriftanwender auch über die verschiedenen Fetten, die die Titillium mitbringt: Die vier Schnitte werden 1wt, 400wt, 800wt und 999wt genannt, aber eigentlich kann man das locker mit light, regular, medium und bold übersetzen. Die eigentliche Gestaltung der Buchstaben geschah jedoch (allem Anschein nach) in der light-Variante, und alle anderen Schnitte wurden aus dieser heraus abgeleitet. Man erkennt das beispielsweise daran, dass alle Schnitte die exakt gleiche Laufweite besitzen – hier wurde eindeutig extrapoliert (entweder technisch über Multiple-Master-ähnliche Verfahren oder manuell). Leider wurde dabei ein bisschen geschludert: Das $-Zeichen ist nämlich in allen vier Schnitten identisch, und zwar das der light-Variante.
Ebenfalls etwas schlampig ist die Belegung der 536 Glyphen: Die Guillemets sind vertauscht und teilweise einzeln statt doppelt, und auch das obere Anführungszeichen ist identisch mit dem Zollzeichen. Da müsste noch einmal dringend nachgearbeitet werden! Schade, denn diese minimalen handwerklichen Fehler wären nun wirklich nicht nötig gewesen. Vielleicht schreibe ich den Machern diesbezüglich noch einen kleinen Strombrief. Oder ein FontLab-geschulter praegnanz.de-Leser nimmt das selber in die Hand und macht einen Fork des Projektes?
Eine Italic-Variante ist im übrigen derzeit nicht in Sicht, was man jedoch verstehen kann, da dies jede Menge Fleißarbeit bedeutete, bei der man vielleicht nicht gar soviel lernen kann wie auf den anderen Baustellen, die so ein Schriftentwurf mit sich bringt.
Die Titillium in der Praxis
Ohne genau zu wissen, welches Wortspiel sich in der Bezeichnung “Titillium” versteckt, so klingt der Name auf jeden Fall wie ein begehrter Rohstoff aus einer Science-Fiction-Welt (C&C, anyone?), und da haben wir auch schon eine ganz passende Assoziation: Diese Schrift schafft tatsächlich den Spagat zwischen Protonenstrahlern und Printing Press – sie ist also weltraumtauglich und trotzdem gut lesbar in Fließtexten auf Papieren des 21. Jahrhundert. Vielleicht würde man kein ganzes Buch darin drucken wollen, aber sagen wir es mal so: Es hat schon Techno- und Computerspielmagazine gegeben, die schlechter lesbare Space-Schriften für den regulären Text verwendet haben.
Auf jeden Fall sehe ich Titillium in Headlines und Teaser-Texten, per @font-face auf Websites, die Technik- und Zukunftsfeeling ausstrahlen wollen, und generell in allem, was modern, clean und sauber daherkommen soll. Die fehlende Kursive schmerzt dabei ein wenig, aber ich habe mir sagen lassen, dass man Hervorhebungen auch durch Farbe oder Sperrung erreichen kann.
Rechtliches
Durch die Veröffentlichung unter der OpenFont-Lizenz sind die Einsatzmöglichkeiten der Titillium fast grenzenlos. Was die Veränderung und Weiterveröffentlichung angeht, müsste man die Konditionen nochmal genauer untersuchen, aber das Verwenden im unkommerziellen oder kommerziellen Rahmen ist sicher völlig gefahrlos!