Kritik an der re:publica ’09

In einer nicht näher spezifizierbaren Reihenfolge:

  • Gefühlte 85 % der Vorträge wurden mit der falschen Zielgruppe vor Augen gehalten. Die Leute im Publikum wissen bereits, was Wikipedia ist. Sie wissen, wie der Status Quo der Blogosphere ist. Sie wissen auch, was Microblogging ist. Meine allergrößte Bitte an die Darbietungen im nächsten Jahr: Nehmt zur Kenntnis, dass die Zuschauer keine Lokalzeitungsredakteure sind, die erst eingeführt und überzeugt werden müssen, sondern Blogger und Webprofis, die eine Vision für die Zukunft oder zumindest einen anderen Blick auf die vertrauten Dinge erwarten!
  • Gefühlte 65 % der Darbietungen drohten in Lethargie und Halbschlaf unterzugehen. Wie kann man sich nur so uninspiriert und gelangweilt auf den Podiumssesseln herumfläzen? Das ist nicht cool und lässig, sondern unhöflich und arrogant gegenüber dem Publikum. Bühnensituation muss bedeuten: Jetzt Performance bringen! Das klappt tatsächlich auch mit ernsthaften Themen – Cory Doctorow bewies es mit seinem lebhaften und trotzdem seriösem Vortrag.
  • Ich finde es nicht so schlimm, wenn es auf einer Konferenz mal kein WLAN gibt. Es ist ja auch verdammt hart, für über 1.000 äußerst aktive User eine Funkinfrastruktur auf die Beine zu stellen. Man sollte aber im Vorfeld klar kommunizieren, dass es kein WLAN geben wird, und nicht die gesamten drei Tage lang so tun, als würde in Kürze alles besser werden.
  • Der Friedrichsstadtpalast war ein großer Fehler. Die Location war aus vielerlei Hinsicht ein Kommunikationskiller: Die Redner konnten das Publikum kaum wahrnehmen, die Distanz ist zu groß, die enormen Ausmaße der Bühne (auch wenn sie per Vorhang auf ein Drittel verkleinert wurde) schaffte eine leere und kühle Atmosphäre. Dagegen ist die Kalkscheune trotz/wegen der Enge und dem Bunte-Abend-Flair einfach die stimmigere Wahl.
  • Überhaupt, der ganze Größenwahn: drei oder vier Subkonferenzen, die irgendwie niemanden interessierten, dafür aber die Komplexität des Stundenplans gehörig nach oben schraubten und zu zehn parallelen Veranstaltungen führte, was dann die Wahl sehr schwer machte. Ich empfehle dringend, die re:publica wieder runterzudampfen, oder die Subkonferenzen deutlicher räumlich und organisatorisch abzutrennen.
  • Immer wieder peinlich: Englische Vorträge von Deutschen. Warum stehen wir nicht dazu, eine deutschsprachige Konferenz abzuhalten und das Englisch-Sprechen denen zu überlassen, die es können? Ja, man konnte auch das Englisch der Deutschen verstehen, so schlecht war’s natürlich nicht. Aber in ihrer Muttersprache hätten die entsprechenden Personen so viel mehr Charme, Wortwitz und Präzision zeigen können! Somit litten 95 % der Anwesenden unter einem 50 % schlechteren Vortrag, und so richtig glücklich werden damit auch die die 5 % Deutschnichtversteher nicht.
  • Ein bisschen Leid taten mir die Security-Jungs, die die ganze Zeit ihre Posten nicht verlassen durften – und das mit der sicheren Aussicht auf hundertprozentig gewaltfreie drei Tage mit der digitalen Elite Deutschlands.
  • Der inflationäre Gebrauch des Wortes »fail« macht die Tweets der Konferenzteilnehmer nicht origineller.
  • Die Monochrom-Performance habe ich entweder nicht verstanden, oder sie war sehr schlecht. Weiß nicht. Tendiere aber zu letzterem.

Fazit

Ja, irgendwie hat Fefe schon recht. Man muss zwar seine Rhetorik wegfiltern, aber prinzipiell sollte man seine Kritik ernst nehmen. Meines Erachtens braucht die re:publica im nächsten Jahr ein neues Konzept, intensiveres Briefing der Vortragenden und eine gehörige Komplexitätsreduktion. Weniger parallele Veranstaltungen, mehr Fokus auf die Zukunft und bitte nicht immer die gleichen Nasen auf der Bühne. Bitte kein Status Quo mehr, auch das gehört zum Shift!

(Disclaimer: Ich habe selber einen Vortrag auf der re:publica gehalten, fühlte mich jedoch die allermeiste Zeit als normaler Teilnehmer der Konferenz und habe meinen »Sonderstatus« auch nicht ausgenutzt. Außer zwei kostenlosen Club Mate, die ich mir geholt habe.)

Update: Ach ja, die Twitterlesung! Die war überraschend lustig, das hätte ich nicht erwartet. Klar, wenn man sich die Arbeit macht und aus zehntausenden von belanglosen Tweets die absolut besten 100 Aphorismen und »Sitcom«-Sprüche heraussucht und kommentierenderweise vorträgt, ist das schon ein nettes Konzept. Danke!