Das Märchen vom Ökostrom-Märchen
23. Januar 2016
Leider ist es offenbar notwendig, noch einmal einige absolute Basics über Stromerzeugung und den Strommarkt zu wiederholen, damit es wirklich alle verstehen können, die seriös mitdiskutieren wollen. Ich erlebe es insbesondere im Netz immer wieder, dass intelligent wirkende Menschen nicht verstehen, wie der Strommarkt technisch und wirtschaftlich funktioniert.
Trotzdem behaupten sie aber lauthals, Ökostrom wäre ein Märchen, dass uns die linksgrünversiffte Gutmenschengesellschaft mit ihren Denkverboten seit Jahrzehnten auftischt. Nun ja.
1. Behauptung: Ökostromkunden bekommen gar keinen Ökostrom
Schließlich funktioniere der Fernseher ja auch dann, wenn sich das Windrad im Nachbardorf nicht dreht, und das müsse ja dann Kohlestrom sein, der da durch den Stecker fließt.
Dazu ein paar Grundlagen: Auf physikalischen Level gibt es keinen „Kohlestrom“ oder „Windstrom“. An der Steckdose kommt einfach nur Strom an, den der örtliche technische Dienstleister (also die Stadtwerke) aus dem europaweiten Stromnetz bezieht. Wie genau dieser Strom erzeugt wurde, spielt auf dieser Ebene erstmal keine Rolle. Wir müssen nämlich bei dieser Thematik einige Schritte zurücktreten und uns das gesamte Konstrukt angucken.
In Deutschland wird Strom auf dem europäischen Strommarkt gehandelt. Man kann sich das als einen sehr großen Topf vorstellen, der den Strom enthält. Von oben wird Strom in den Topf gegossen – das sind die ganzen Kraftwerke mit ihren unterschiedlichen Erzeugungsarten. Unten am Topf sind die Zapfhähne angebracht, die dann den Strom entgegennehmen – das sind die Verbraucher. Die Stromempfänger erhalten also Strom aus dem großen Topf, erst einmal unabhängig davon, wie dieser hergestellt wurde.
Doch es gibt ja noch die wirtschaftliche Seite, und hier wird es spannend! Denn die Stromempfänger dürfen abstimmen, welche Arten von Kraftwerken ihren Strom ins Netz einspeisen dürfen, bzw. welche Kraftwerke für das Einspeisen auch tatsächlich bezahlt werden. Und hier liegt der Knackpunkt: Als Ökostrom-Kunde sorge ich über meinen Anbieter dafür, dass mindestens soviel Strom aus erneuerbaren Energien in das Netz eingespeist werden, wie ich tatsächlich physikalisch (im Jahr, nicht in Echtzeit) verbrauche. Ob dieser Strom dann im Nachbarort erzeugt wird oder in Andalusien, kann mir egal sein, denn die interne Struktur des großen Topfes ist irrelevant – der Endverbraucher bestimmt nur, was rein- und was rauskommt.
Noch einfacher: Fünf Freunde treffen sich zum gemeinsamen Suppekochen. Jeder bringt eine Karotte mit, Paula hat als einzige eine Bio-Karotte dabei. Die Suppe wird gekocht, Paulas Bio-Karotte mischt sich unter die anderen, am Ende bekommt jeder die gleiche Suppe auf den Teller, doch ein Fünftel davon ist Bio – dafür hat Paula gesorgt! (Der Vergleich hinkt, da Bio-Karotten unter Umständen gesünder sind, Strom aber immer gleich gut. Aber man erkennt, was ich meine.)
2. Behauptung: Es ist nicht genügend Ökostrom vorhanden
Hier ist zumindest grundsätzlich sogar was Wahres dran. Ja, wenn alle Verbraucher in Europa auf einen Schlag ausschließlich Ökostrom anfordern würden, könnte das selbstverständlich nicht geleistet werden. Der Anteil von Ökostrom im europäischen Netz dürfte derzeit bei ca. 30–40 Prozent liegen (genaue aktuelle Zahlen habe ich leider nicht gefunden).
Dennoch besteht beispielsweise für interessierte Käufer eines Elektroautos keine Gefahr, Kohlekraftwerke zu unterstützen, wenn Sie Ihr Fahrzeug zuhause über den Tarif eines Ökostromanbieters betanken – es ist locker genug Ökostrom vorhanden für alle, die ihn haben wollen. In Deutschland liegt der Anteil von explizit angefordertem Ökostrom bei gerade einmal 11 Prozent (Monitoringbericht der Bundesnetzagentur). Mit Blick auf den europaweiten Ökostrom-Anteil von über 30 Prozent also noch viel Luft nach oben. Wer Ökostrom will, bekommt ihn also auch garantiert ins Netz eingespeist.
3. Behauptung: Die lügen doch alle!
Ja mei! Gegen Verschwörungstheorien kann man nichts ausrichten. Wenn man jedem, der einen aus seiner Komfortzone holt, gleich den Lügenvorwurf an den Kopf wirft, ist man zu einer ernsthaften Diskussion sowieso nicht bereit.