Buchtipp: „Anatomie der Buchstaben“

Wenn ich mich mich Freunden und Bekannten unterhalte, kommt bisweilen das Thema Schriften auf. Dass es verschiedene Schriften gibt, wissen natürlich alle. Nur wenige jedoch wissen, dass professionelle Schriften einzeln gekauft werden müssen. Noch weniger wissen, dass eine gut ausgebaute Schriftfamilie mit allen ihren Einzelschnitte durchaus mal 500 Euro kosten kann. Und spätestens wenn ich meinen Gesprächspartnern erzähle, dass dieser Preis in vielen Fällen durchaus berechtigt ist, weil die Schriftgestaltung eine hohe und komplizierte Kunst ist, die nur wenige Menschen beherrschen, und dass der Entwurf einer Schriftfamilie mehrere Jahre dauern kann, halten sie mich meist für völlig übergeschnappt.

Nun kann ich diesen Leuten etwas entgegensetzen. Ich werde ihnen einfach das neue Buch aus dem Hermann-Schmidt-Verlag auf den Tisch legen. Es heißt Anatomie der Buchstaben und zeigt die Regeln, Tricks und Kniffe beim Entwurf von Schriften. Und wenn man das Buch durchliest, wird einem klar, warum es so unglaublich aufwändig ist, professionelle Schriften zu entwerfen, die mehr als nur für eine schnelle Headline zu gebrauchen sind.

Ein paar einleitende Fakten zum Buch. Es ist in diesem Frühjahr erschienen, und wurde von der Washingtoner Schriftdesign-Dozentin Karen Cheng auf Englisch verfasst. Die deutsche Übersetzung des Manuskripts hat Henning Krause angefertigt – das Buch erschien quasi parallel in beiden Sprachen, wobei die deutsche Version angeblich besser gestaltet sein soll – laut Fontblog hat Karen Cheng eben diese zu einem Wettbewerb eingereicht, und nicht etwa das Originalwerk »Desiging Type«. Auch mal nett.

Doch wie ist das Buch nun aufgebaut? Eigentlich ziemlich simpel: Nach einer knappen Einführung in die Fachbegriffe und ein paar allgemeinen Informationen über Schriftklassifikationen und -proportionen geht es direkt los mit der Beschreibung der einzelnen Buchstaben. Auf jeweils einer Doppelseite wird ein Buchstabe unseres Alphabets beschrieben. Die Hauptkapitel im Buch sind demnach folgende:

  • Großbuchstaben mit Serifen
  • Kleinbuchstaben mit Serifen
  • Serifenlose Großbuchstaben
  • Serifenlose Kleinbuchstaben
  • Ziffern, Interpunktion, Diakretische Zeichen …

Dabei ist die Reihenfolge innerhalb der Kapitel so gewählt, dass die Buchstabenformen teilweise aus den vorangegangenen Formen abgeleitet werden können. Meist beginnt das dann in etwa so: »Das C ist wie ein tranchiertes O, aber ...« Und dann beginnt Karen Cheng die Analyse, die alle noch so subtilen Feinheiten der Buchstabenformen berücksichtigt. Eins ist bereits nach Lektüre der ersten drei Seiten klar: Buchstaben lassen sich nicht nach dem Baukastenprinzip aufbauen, jedenfalls dann nicht, wenn es um gut lesbare Brotschriften geht.

Ein paar Probeseiten als PDF-Download gibt’s im Fontblog.

Das Buch hält sich größtenteils an die klassischen Schriften; die Beispiele, anhand derer die Eigenschaften der einzelnen Buchstaben gezeigt werden, sind alte Bekannte wie Caslon, Galliard, Stempel Garamond oder Didot. Bei den Serifenlosen lernen wir ebenfalls die Finessen der großen Namen kennen: Avenir, Syntax, Meta, Univers, Helvetica und viele mehr. Es werden bei der Besprechung der Buchstaben natürlich stets nur die Schriften zum Vergleich herangezogen, an denen man besonders deutlich einen bestimmten Sachverhalt zeigen kann.

So eine Buchstaben-Doppelseite ist sehr übersichtlich und knackig gestaltet. Es gibt drei bis vier Absätze Lauftext, in dem das Wichtigste festgehalten wird, und die restlichen drei Viertel der Fläche sind für angenehm große und deutliche Illustrationen reserviert. Hier wird mit schwarzen und roten Linien sowie mit grünen Flächen gearbeitet, um sehr exakt zu zeigen, wie sich die Buchstabenformen zueinander verhalten und wo die Knackpunkte sind.

Wer das Buch liest, erfährt zum Beispiel, dass ein großes A prinzipiell ein auf den Kopf gestelltes großes V ist – natürlich mit Querstrich, der dann allerdings die visuelle Dichte erhöht. Zum Ausgleich kann man den Binnenraum des A ein klein wenig breiter anlegen, so dass ein harmonischer Rhythmus und ein gleichmäßiger Grauwert entsteht. (Wenn Ihr jetzt kaum etwas verstanden habt, es aber trotzdem interessant für Eure Ohren klang, dann seid Ihr die Zielgruppe des Buches).

Nach den ganzen Einzelformen folgt am Ende noch eine Art Anhang, in dem es um die Zurichtung der Schrift geht. Dieser Teil ist verhältnismäßig knapp gehalten (10 Seiten), was ein bisschen schade ist – hier hätte ich gerne noch ein wenig mehr gewusst, zumal auch stets betont wird, wie unglaublich schwierig und wichtig es ist, die richtigen horizontalen Abstände zu finden, um seine Einzelformen auch gut in Szene zu setzen.

Auch wenn die scheinbare Hauptaufgabe des Buches darin besteht, alle Buchstaben des Alphabets in Gänze zu besprechen, so ist dies eigentlich gar nicht wahr. In Wirklichkeit nimmt sich Karen Cheng die vorhandenen, bekannten Buchstaben nur als Beispiele, um dem Leser zu zeigen, worauf man beim Entwurf generell achten muss/kann. Wer das Buch brav liest und alle Regeln brav befolgt, wird immer noch keine Schrift entwerfen können. Wer aber das Buch liest und alle Regeln nicht nur brav befolgt, sondern auch versteht, warum diese Regeln aufgestellt werden, der hat vielleicht den ersten Schritt getan, seine eigene Schrift zu entwerfen. Transferleistung hieß das früher im Gymnasium. Die ist hier gefragt!

Denn auch wenn es anfänglich so wirken mag – »Anatomie der Buchstaben« ist alles andere als »komplett«: Für Besonderheiten wie Semi-Serif-Schriften oder konstruierte Schriften wie Avantgarde oder Eurostile ist kein Platz. Es fehlen umfassende Regeln für fette und magere Schnitte. Es gibt nichts zur Kursiven. Und auch die ganzen Sonderzeichen wie @ # * § $ & tauchen nicht auf. Hat das Buch von daher das Thema verfehlt? Ganz und gar nicht! Es zeigt die Grundlagen. Und wer die kennt, kann sich den Rest von alleine erschließen.

Kein Buch der Welt kann dem Leser beibringen, wie man ein Schrift zu entwerfen hat. Aber es kann dem Leser sehr wohl ein paar Türen aufmachen und die Details aufzeigen, auf die man achten sollte. Von daher ist das Buch eine wunderbare Grundlage. Doch wer seine erste Schrift entwirft, muss durch die eigenen Fehler lernen und seine eigenes Gespür entwickeln. »Anatomie der Buchstaben« hilft ihm dabei, auf die richtigen Dinge zu achten.


Zusammen mit zwei anderen Veröffentlichungen aus dem Hermann-Schmidt-Verlag ergibt sich nun eine wunderbare Trilogie der Typografie-Bibeln:

  • Lesetypografie (Willberg/Forssmann)
  • Detailtypografie (Forssmann/de Jong)
  • Anatomie der Buchstaben (Cheng)

Wer diese Bücher kauft, ist danach zwar um über 200 Euro ärmer, aber glücklich. Und reich an Typo-Wissen.