Freie Schriften – Anspruch und Wirklichkeit

Die Texte sind also steinalt, erfreuen sich aber immer noch hoher Popularität. Ich würde fast sagen, dass ihre Beliebtheit eher noch steigt als sinkt. Und dies ist irgendwo auch symptomatisch für das gesamte Phänomen: Freie Schriften sind ein echter Dauerbrenner im Netz! Wäre ich also clever oder größenwahnsinnig gewesen, hätte ich mich nach dem Studium im Herbst 2005 gleich mit einem richtig groß aufgezogenen Verzeichnis selbstständig machen müssen und wäre jetzt vermutlich so etwas wie FontShop, nur ohne »Shop« …

Aber will man das sein? Ich bin nicht sicher. Denn der Markt für Freie Schriften im Internet – so man von Markt sprechen kann – ist ein extrem unübersichtlicher Bauchladen geworden; weit entfernt von dem, was ich damals mit meinen ausführlichen und sachkundigen Portraits angefangen (und aus Zeitmangel bald wieder eingestellt) hatte. Es tummeln sich allerlei zwielichtige und inkompetente Gestalten, aber es gibt auch clevere Geschäftideen und Selbstvermarkter, und sogar richtig gute Schriftentwerfer und tolle Schriftfamilien! Die Spreu vom Weizen zu trennen ist kein leichtes Vorhaben. Zeit für ein paar kleine Exkurse und freie Assoziationen!

Die Schriften und ihre Anbieter

Man macht es sich zu leicht, wenn man behauptet, kostenlose Schriften müssten zwangsläufig von minderer Qualität sein als kommerziell angebotene Fonts. Eine hochqualitative Schrift kann schließlich nichts dafür, wenn sie gratis verteilt wird! Aber es gibt selbstredend unterschiedliche Motivationen, aus denen heraus eine Schrift kostenlos hergegeben werden kann, als da wären:

  • Ein Schriftschnitt soll Werbung für die ganze Schriftfamilie machen. Meist sind es kostenlose Regular-Schnitte, manchmal sogar mit einer Italic dabei. Besonders deutlich trifft man diese Taktik beim grandiosen Jos Buivenga an, der am Anfang seiner Karriere fast alles kostenlos herausgegeben hat, damit sehr schnell sehr bekannt wurde, und nun immer mehr kostenpflichtige Schnitte zusätzlich zu seinen Basis-Fonts hinzufügt, und diese über MyFonts und Typekit vertreibt.
  • Eine Schrift soll Werbung für einen Schrifthändler machen. Oftmals handelt es sich hierbei um zeitlich begrenzte Aktionen, und es werden auch hier üblicherweise einzelne Schnitte herausgegriffen, nicht etwa Schriftfamilien. Fast alle Schriftverkäufer nutzeb inzwischen diese Taktik, übertreiben es aber niemals mit der Menge der angebotenen Schnupperfonts!
  • Die Schrift soll die Reputation des Machers oder Herausgebers steigern. Niemand wehrt sich schließlich gegen steigende Beliebheit und Anerkennung der eigenen Person oder Institution – ob im ganzen Internet und in der Gestalterszene!
  • Die Schrift ist im akademischen Kontext entstanden. Bestes Beispiel ist vielleicht die beliebte Gentium, die aus dem Anspruch enstanden ist, mögichst viele exotische Zeichensysteme in einer einheitlichen Schriftart zu vereinen. Oder natürlich studentische Projekte wie die Titillium. Das Problem bei dieser Art von Fonts ist manchmal, dass es keine richtigen Meilensteine oder Veröffentlichungstermine gibt. Die Schriften wachsen nach und nach, es gibt Versions-Wildwuchs, und eine Qualitätssicherung findet nur solange statt, wie der entsprechende Professor Zeit und Motivation findet, die Dinge weiter voran zu treiben.
  • Tatsächliche gute Taten von Einzelpersonen, Unternehmen oder Organisationen. Der Open-Source-Gedanke aus der Software-Welt macht auch in vor der Schriftwelt längst nicht mehr Halt: Professionell gestaltete Fonts werden bewusst als Open-Source-Projekt in die Welt entlassen, um Dinge zu verbessern, die als verbesserungswürdig angesehen werden – zum Beispiel Typografie.

Man darf sich nichts vormachen: Um eine gut gemachte, professionell produzierte Schriftfamilie zu erschaffen, die nicht von einer anderen Schrift geklont oder zumindest abgeleitet ist, muss man extrem viel Zeit und Fachwissen aufwenden. Nicht umsonst wird der Schriftentwurf von vielen als die Königsdisziplin im Grafikdesign angesehen!

Deshalb der Praxistipp: Wenn eine Schriftfamilie kostenlos angeboten wird, muss dies einen wirklich guten Grund haben (siehe oben). Ist dieser nicht erkennbar, sollte man sofort sehr kritisch werden, was die Qualität angeht. Man kreiert als Fontdesigner nicht in monatelanger Arbeit eine hochqualitative Schrift, um sie dann einfach zu verschenken. Entweder es treibt einer der oben genannten Motivationen, oder die Schrift ist es schlicht nicht wert heruntergeladen zu werden.

Die designbloggenden Listenmacher

Seitdem bekannt ist, dass freie Schriften im Netz irgendwie immer gut ankommen und auch kräftig gegooglet werden, vergeht kein Monat, in dem nicht irgendein Webdesignblogger eine »neue« Auflistung der 25, 50 oder gar 100 besten Freien Schriften veröffentlicht. Aus phänomenologischem Interesse sammele ich diese Artikel, hier nur eine kleine Auswahl.

Anfangs war das noch hilfreich und praktisch, und der schriftsuchende Designer konnte dadurch so manche Perle finden. Inzwischen ist es jedoch extrem ermüdend und teilweise auch skandalös, wie schlecht diese Listen geworden sind (oder doch schon immer waren?).

Ich möchte hier ein paar Dinge kritisieren, allen voran die lieblose Aufbereitung! Eine Charakteristik der Schrift, und sei sie noch so kurz, sucht man meist vergeblich, es geht immer nur um Beispielbild und Link zur Download-Quelle. Die Bilddarstellung ist dabei niemals selber gemacht, sondern von der offiziellen Website übernommen, was problematisch ist: Erstens lenkt die aufwändige Gestaltung des Specimens von den eigentlichen Formen der Schrift ab, zweitens lassen sich die unterschiedlichen Schriften der Liste nicht mehr fair vergleichen. Fonts mit einem toll gestalteten Demobild werden hervorgehoben und können handwerkliche Mängel gut verstecken.

Des weiteren schert die Listenmacher nicht im Geringsten, mit was für technischen, finanziellen und rechtlichen Parametern eine Schrift verbunden ist: Ob sie nur zwei Wochen zum Download bereit steht, ob sie eventuell nur für private Zwecke genutzt werden darf, oder ob nur der hässliche Medium-Italic-Schnitt kostenlos heruntergeladen werden darf; egal: Hauptsache, die Liste wird länger und bunter.

Des weiteren vermischen die werten Bloggerkollegen ohne mit der Wimper zu zucken ernsthafte Brotschriftfamilien mit Single-Purpose-Displayfonts und stellen die beiden quasi unkommentiert auf einer Ebene dar. Die Schriftentwerfer erfahren keine echte Würdigung, und praktische Tipps für den Einsatz der Fonts werden ebenfalls nicht gegeben. Es zählt einzig die raue Menge. Ich vermute sogar, dass die Bloggerkollegen viele der Fonts nicht einmal installiert haben, um zumindest grob zu gucken, ob alles soweit in Ordnung ist mit ihrer angepriesenen »Ware«. Alles nur, um dem geschenkten Gaul nicht ins Maul gucken zu müssen. Wie gierig das ist!

Unnötig zu erwähnen, dass die Anzahl der Listen in keinem Verhältnis steht zur Anzahl der neu erschienen, tatsächlich brauchbaren und erwähnenswerten freien Schriften. Diese kann man seit meiner aktiven Zeit prinzipiell an zwei Händen abzählen!

Die Neuen Freefont-Portale

Dass es auch anders geht, beweisen derzeit vor allem zwei Angebote im Netz, die ich hier einmal lobend erwähnen möchte. Zum einen natürlich FontSquirrel, dessen Macher es sich zur Aufgabe gemacht hat, nur qualitativ hochwertige Freefonts zu katalogisieren und durchsuchbar zu machen, ohne dabei die rechtliche Situation aus den Augen zu verlieren oder wichtige Referenzen zur Herkunft zu vernachlässigen. Im Vergleich zum ausufernden und nicht wirklich als seriös zu bezeichnenden dafont.com besticht FontSqirrel mit Übersichtlichkeit, guten Such- und Stöberfunktionen, sowie einigen interessanten Services – allen voran die @font-face-Kits, welche es kinderleicht machen, dafür freigegebenen Schriften auch auf Websites einzubinden. FontSquirrel wird von Ethan Dunham betrieben, der selber Schriften entworfen hat und ein echter Typo-Enthusiast ist. That’s why.

Das andere lobenswerte Projekt ist natürlich das Google Font Directory, welches sich auf Webfonts spezialisiert, und auch einen Online-Service zum Einbinden dieser Schriften anbietet. Bei Google ist Marc Tobias Kunisch für das Projekt federführend, der ziemlich gut weiß, was er da tut. Zu Beispiel achtet er darauf, dass nur solche Fonts im Katalog erscheinen, die es auch offiziell zum Herunterladen in printfähigen Formaten gibt. Google steht dabei im kommunikativen Austausch mit den Schriftentwerfern und sorgt kuratierend dafür, dass das Angebot insgesamt technisch und gestalterisch halbwegs brauchbar ist (was leider nicht immer gelingt).

Wenn Sie also auf der Suche nach einer Schrift-Inspiration sind, aber für das avisierte Projekt kein entsprechendes Budget zur Verfügung steht, versuchen Sie es zunächst einmal bei diesen beiden Anlaufstellen und meiden Sie schlichte Google-Suchen nach »free fonts«.

Kleines Plädoyer für Freefonts

Mit Texten wie diesem (und natürlich mit meinen Schriftportraits) begebe ich mich in eine gewisse Zwickmühle. Zum einen hängt den Freefonts in der professionellen Schriftindustrie ein übler Ruf nach; und das nicht zu Unrecht, denn Plagiate waren und sind allgegenwärtig. Dadurch, dass die Buchstabenformen einer Schrift in der Regel rechtlich nicht schützbar ist (weil keine Schöpfungshöhe vorliegt, was den eigentlichen Skandal darstellt!), gab und gibt es unzählige Rip-Offs, die sogar völlig legal frei verteilt werden dürfen – solange sie nicht den Originalnamen tragen oder die originalen digitalen Kontur-Pfade enthalten. Buchstabenformen rauszurendern und die Kurven manuell nachzubauen ist jedoch erlaubt und wird leider immer noch gemacht.

Doch von dieser Art von Schriften rede ich in aller Regel nicht. Im Gegenteil – ich habe mich stets dafür ausgesprochen, nur solche Schriften zu promoten, die tatsächlich mit Zustimmung des Entwerfers frei verteilt werden, aus einer der oben beschriebenen Motivationen heraus. Und glücklicherweise gab es in den letzten Jahren einige solcher schönen Momente, wo hochqualitative Schriften für die Öffentlichkeit freigegeben wurden.

Ich sehe darin unter anderem eine Chance, das allgemeine Gespür für die Qualität von Schriften zu schärfen. Die Hobbydesigner und Quereinsteiger, welche nie einen »richtigen« Typografiekurs besuchen durften, sollen lernen, was eine technisch und gestalterisch hochqualitative Schrift ausmacht, und dass diese eben nicht an jeder Straßenecke zu bekommen sind! Abschreckende Beispiele aus dem Giftschrank von dafont.com reichen dafür nicht aus, denn man gewöhnt sich an alles – siehe hier. Es müssen von daher positive Beispiele her! Nur wer die feinen Unterschiede kennen und schätzen lernt, wird auch einsehen, warum es eben keine Unverschämtheit sein muss, für eine gut ausgebaute Schriftgroßfamilie 500 Euro anzusetzen. Sie sind es wert! Aber bis man das begreift, muss man üben. Ein Freefont-Umfeld mit Qualität statt Quantität im Fokus hilft dabei.