Die Sache mit Chrome und H.264

Aus irgendeinem Grund erfordert diese ganze Chrome/H.264-Geschichte offenbar, dass man sich als engagierter Webentwickler entweder dafür oder dagegen positioniert. Eigentlich verrückt! Vielleicht versuche ich aber mal, die ganze Sache halbwegs neutral zu betrachten und ein paar Aspekte so zusammenzustellen, dass man mir nicht sofort Apple-Hörigkeit unterstellt. In dieses Minenfeld begibt man sich nämlich zwangsläufig, wenn man über Videocodecs im Web spricht.

Zunächst einmal: Fast jeder Webentwickler würde aus vollem Herzen einen lizenzfreien Videocodec als echten Webstandard begrüßen! Was wir brauchen, ist eine Art PNG für Video1 also eine wirklich freie Spezifikation für ein Format, dass von allen Browsern unterstützt wird, und für das von keiner Partei Lizenzkosten bezahlt werden müssen. Und wenn dieses Format dann auch noch technisch auf der Höhe ist – umso besser!

Nun sieht die Lage bei den Videocodecs (und speziell WebM) ein wenig anders aus als bei den Bildformaten. Deutlich komplexer, um genau zu sein, denn es spielen viele zusätzliche Faktoren eine Rolle:

1) Zum Zeitpunkt, an dem WebM gestartet ist, konnte sich das proprietäre lizenzpflichtige Konkurrenzformat MPEG-4/H.264 bereits sehr fett am Software- und Hardware-Markt breitmachen. Andere Formate wie FLV, WinMedia oder Real spielen quasi keine Rolle mehr, und WebM beginnt nun bei absolut Null!

2) Um Videos auf mobilen Geräten abzuspielen, benötigt man zwingend eine echte, leistungsfähige Hardware-Beschleunigung. Wenn ein ARM-Prozessor das in Software machen soll, ist die Batterie in wenigen Minuten leergesaugt – die VLC-App, die es ein paar Tage lang im AppStore gab, bewies dies eindrücklich. Derzeit existieren keine Hardware-Decoder für WebM, was sich aber im Laufe der nächsten Monate ändern kann. Der mobile Markt ist inzwischen – das bestreitet keiner – enorm wichtig!

3) Niemand kann mit Sicherheit sagen, wieviel Software-Patente in WebM stecken, die derzeit noch nicht geltend gemacht werden. Keine Frage: Software-Patente sind übel, und es macht mich persönlich betroffen, dass man sich über diesen Mist Gedanken machen muss. Tatsache ist aber, dass nicht mal das schwer reiche Google, welches nun mit seinem jüngsten Schachzug das WebM-Format nach vorne bringen möchte, eine echte Garantie für die Patentfreiheit von WebM aussprechen möchte.

Da sitzen wir nun. Der Wechsel von jetzigen de-facto-Standard H.264 zu einem offenen WebM-Standard ist lang und steinig, soviel dürfte klar sein.

Der Startpunkt meiner Prognose ist nun, dass der normale User von der jüngsten Chrome-Veränderung quasi nichts mitbekommt: Das Flash-Plugin ist ja weiterhin vorhanden und kümmert sich nun um allen H.264-Content, der von zukunftsbegeisterten Webentwicklern mit dem Video-Element eingesetzt wurde. (Wer derzeit video ohne Flash-Fallback einsetzt, ist fern jeder Realität.) Die Prozessorlast geht mit Flash unter Umständen ein wenig rauf, aber da Chrome ja ein reiner Desktop-Browser ist, fällt das kaum ins Gewicht. Außerdem wird auch die Hardwarebeschleunigung von Flash immer besser, so dass es auf dem Desktop wirklich keinen großen Unterschied macht. Alles bleibt wie bisher: Das Standardformat kann H.264 bleiben, die Videos werden mit Flash abgespielt, außer unter Internet Explorer 9 und Safari, wo das nativ mit HTML5-Bordmitteln funktioniert. Für mobile Geräte muss es sowieso bis auf weiteres H.264 sein, denn hier kann man nur mit einem Austausch der Hardware eine WebM-Kompatibilität herstellen. Also abwarten, bis alle iOS-, Android- und WinPhone7-Geräte vom Markt sind und durch WebM-fähige Nachfolger ersetzt wurden …

Firefox, Chrome und Opera könnten zwar theoretisch bereits heute WebM-Videos abspielen, aber kaum ein Videoanbieter außer Google/YouTube hat Lust, einen großen Switch zu machen, weil doch derzeit alles so wunderbar mit H.264 funktioniert!

Soweit die traurige Zukunftperspektive. Doch wird es wirklich so kommen? Wie groß ist eigentlich der »Leidensdruck«, irgendwann auf die Flash-Fallbacklösung zu verzichten? Und wie lange wollen wir das H.264-Format noch »dulden«? Für die meisten pragmatisch denkenden Menschen sind das sehr seltsame Fragen. Mal ganz ketzerisch: Flash stört doch als Videoplayer für den Desktop nicht sonderlich, und Videoformate aus rein ideologischen Grunden abzulehnen, liegt den meisten Menschen fern.

Wie schaffen wir es, von einer 99% H.264-beherrschten Welt zu einer WebM-dominierten Welt zu wechseln? Wie soll man den Aufwand begründen, alle etablierten Workflows zu verändern? Die Menschen sind träge! Und technisch wird das schwer zu vermitteln sein: Die beiden Formate sind etwa ebenbürtig. Kostendruck seitens der Verbraucher gibt es ebenfalls nicht: Die Lizenzkosten für H.264 stecken in den Anschaffungskosten des Betriebssystems drin und tun nicht weh. Selbst Anbieter von Videoplattformen kommen ohne Kosten davon, wenn ihre Videos gratis angeboten werden. Bei Bezahlvideos lassen sich die Kosten über den Kaufpreis wieder reinholen. (Aber haben wir nicht eh eine Kostenloskultur?) Die einzigen Parteien, die bei H.264 bluten müssten, sind die Browserhersteller. Und hier kursieren auch ein paar Gerüchte, die so nicht haltbar sind. Mag sein, dass Mozilla etwa 7 5 Millionen Dollar jährlich für die Lizensierung von Firefox zahlen müsste. Doch da die Mozilla Foundation Dank der Google-Suche finanziell nicht übel dasteht, wäre das zu verkraften. Dass die Lizenzkosten irgendwann versiebenfacht werden, ist hingegen klar ausgeschlossen: In den Lizenzbedingungen steht, dass der Betrag nur alle fünf Jahre um maximal 10 Prozent angehoben werden kann. Einzig Opera würde eventuell echte Schwierigkeiten bekommen. Wobei man sich eh fragen muss, wie diese Firma überhaupt all die Jahre überleben konnte. Andererseits: Derzeit zahlt ja sogar Adobe die Lizenzkosten für Mozilla und Opera. Zwar indirekt über das Flash-Plugin, aber immerhin.

Ich behaupte, dass es für eine Transition von H.264 zu WebM, so wünschenswert sie wäre, zu spät ist! Es ist nicht abzusehen, dass ein nennenswerter Leidensdruck entsteht, der es für die Masse der Videoanbieter, Chiphersteller, Pluginanbieter und Browserhersteller notwendig macht, entsprechende aufwändige Maßnahmen zu ergreifen. Meint ihr wirklich, dass Google seinen Android-Hardwarehersteller vorschreiben kann, die neuen WebM-Chipsets zu verwenden, auf H.264 zu verzichten und damit alle Webvideos außer YouTube unabspielbar zu machen? Nein, eventuell wird es duale Chipsätze geben, die beide Codecs können. Genauso wie alle guten Browser beide Videoformate abspielen können sollten. Ohne Flash! Damit wäre uns mehr geholfen.

Zusammenfassen glaube ich, dass einfach nicht viel passieren wird – so meine nüchterne Prognose. Die einzige Firma, die es eigentlich in der Hand hätte, die Dinge radikal zu verändern, wäre ironischerweise Adobe! Nur wenn sie die H.264-Unterstützung in Flash fallen ließe, würde vieles wie ein Kartenhaus zusammenbrechen! Wie realistisch mag das sein? Darüber könnt ihr ja in der nächsten Halbzeitpause mal ›ne Viertelstunde drüber nahdenken. Viertelstunde? Schafft ihr schon!

1 Was ist eigentlich mit JPG und MP3? Auch nicht gerade das, was man Open-Source-Software nennt. Diese sind aber in Chrome enthalten. Oder greift man hier auf OS-Ressourcen zurück? Wer weiß es? Die Klasse?