Adobe und die vielen Strohhalme

Es gibt zwei verschiedene Anzeichen dafür, dass es einer Firma schlecht geht. Entweder man hört so gar nichts neues mehr, oder es wird pausenlos über neue Dinge berichtet, die in der Mache sind.

Letzteres trifft zweifelsohne auf Adobe zu. Seit einiger Zeit – lassen wir es zwei Jahre sein – sucht der Konzern sein Heil im hektischen Aktionismus. Dieser ist dadurch geprägt, dass man seine Produktpalette in alle Himmelsrichtungen des webbasierten Publizierens erweitert, dabei jedoch keinerlei verlässliche Aussage trifft, außer: »Wir machen alles mit, wir sind immer dabei. Bitte lasst uns mitspielen, denn wir haben Angst, das nächste große Paradigma zu verpassen!« So sieht kein souveräner Konzern aus.

Als Adobe vor sechs Jahren Macromedia gekauft hatte, glaubte man wohl ein Stück weit, dass man sich dadurch den »Webdesign-Markt« gekauft habe. Schließlich kamen von Macromedia so erfolgreiche Produkte wie Flash, Dreamweaver und ColdFusion.

Leider hat Adobe damit wohl auf das falsche Pferd gesetzt, denn die Realität im Webdesign ist seit dieser Zeit eher in die komplett andere Richtung umgeschlagen: Weg von den clientseitigen Authoring-Tools, hin zu serverseitigen CMS-Lösungen. Der Anteil der Webdesigner, die heute noch aus der traditionellen Print-Denke heraus Websites baut, wird immer geringer. Im professionellen Bereich sind zwar weiterhin auch klassisch geschulte Designer unterwegs, aber sie arbeiten (entweder in Personalunion oder im Team) mit Entwicklern zusammen, die sich um Semantik und Coding kümmern. Die Frage »Welches Programm verwendest Du eigentlich zum Webdesign?« habe ich in den letzten fünf Jahren nur noch ganz selten gehört – im Studium dagegen ständig. Es ist inzwischen jedem klar, dass man Websites per Hand baut. Natürlich mit Unterstützung durch clevere Texteditoren, JavaScript- und evtl. CSS-Frameworks, Browsererweiterungen wie Web Inspektor oder Firebug, und natürlich serverseitigen Content-Management-Systemen für die Dynamisierung. Die heutigen Anforderungen an die allermeisten Websites sind nun mal, unter anderem, Flexibilität und Semantik. Benutzer und Suchmaschinen wollen klar strukturierte Inhalte sehen. Das Web drängt gleichzeitig auf immer größere und immer kleinere Bildschirme, da ist es mit einer starren Umsetzung eines InDesign-Entwurfes oftmals nicht getan. Zumal natürlich auch Web-Aplikationen ein Riesending sind. Kaum jemand will noch eine Website, auf der man ausschließlich gucken kann!

Man muss Adobe lassen, dass sie auch diesen Trend irgendwie mitmachen. Es gibt ganz interessante Einreichungen beim W3C, was Textfluss-Varianten in CSS angeht. Und wenn es um ordentliche Authoring-Tools für HTML5-Animationen geht, kann man mal Edge ausprobieren. Denn natürlich verlangt niemand, dass man Canvas, SVG oder CSS3-Transitions per Hand coden muss. Klares Signal: Adobe kümmert sich neben Flash auch um Webstandards-Techniken. Die Open-Source-Browserengine Webkit ist Teil von AIR, man unterstützt den WebM-Videostandard usw.

Doch manchmal kann man Dinge auch von der falschen Seite umarmen. Gerade als man dachte, Dreamweaver würde so langsam sterben oder zumindest zu einem komfortablen Code-Editor mit Vorschau-Funktion und FTP-Client umgemünzt werden, kommt ein brandneues Produkt auf den Softwaremarkt, das ganz offenbar konzeptionell in den späten Neunziger Jahren eingefroren und jetzt wieder aufgetaut und umgesetzt wurde: Adobe Muse (Arbeitstitel).

Muse ist im Grunde ein abgespecktes InDesign, welches HTML-basierte Websites ausspuckt. Die Prämisse: Der Designer soll auf keinen Fall irgendwelchen Code zu sehen bekommen. Was natürlich Quatsch, aber in diesem Falle leider ernst gemeint ist. Man schaue sich die offizielle Promo-Website an, die natürlich bereits mit Muse hergestellt wurde. Die Hauptüberschrift ist mit

<p id="n188"><span class="muse-hero-primary">Muse (code name)</span></p>

ausgezeichnet. Weitere Nettigkeiten:

  • Schriftauswahl: Es gibt in der Liste sowohl »Websafe Fonts« (darunter Franklin Gothic und Futura), als auch »System Fonts«, die dann – yea! – beim Export als Pixelgrafik gerendert werden.
  • Zu Beginn eines Projektes wird erstmal die Seitenbreite und Mindesthöhe festgelegt, damit gleich klar wird, dass man bei Adobe mit flexiblen oder responsiven Layouts nichts zu tun haben möchte.
  • Die Logik, nach der zwei oder mehrere Boxen untereinander im Textfluss platziert werden, ist nicht ersichtlich. Immerhin wird nicht überall mit absoluter Positionierung gearbeitet, aber man kann erstmal nicht wissen, was passiert, wenn Texte evtl. kürzer oder länger werden.

Muse ist wirklich ein Tool aus der Web-Steinzeit, als man noch einzelne Seiten festgebacken und mit fixen Text- und Bildarrangements versehen hat. An dynamische Pflegbarkeit ist hierbei nicht zu denken. Im Grunde könnte man statt HTML auch gleich ein PDF ausgeben, es würde keinen allzugroßen Unterschied machen. (PDFs können ja ebenfalls Navigationen und Links enthalten, Videos und andere Dinge in sich aufnehmen. Das dazugehörige Authoring-Tool »InDesign« ist jahrelang erprobt und gut abgehangen.)

Muse ist demnach wirklich ein verzweifelter Versuch, ein weiterer von vielen Webstandards-Strohhälmen, an die sich Adobe derzeit zu klammern versucht – ohne rechten Sinn dahinter. Denn im Grunde hat Adobe dieses HTML immer noch nicht richtig verstanden. Sie mögen wissen, was es technisch damit auf sich hat. Aber sie können es sich einfach nicht vorstellen, dass professionelle Webdesigner tatsächlich HTML, CSS und JavaScript manuell schreiben wollen! Sie vergleichen es im Muse-Promovideo mit PostScript, dass ja wohl auch keiner von Hand schreiben will. Sie denken, wir warten alle nur darauf, dass uns jemand das lästige Coden abnimmt, und dass in Zukunft der handcodende Webdesigner eine skurrile Ausnahmeerscheinung sein wird.

Sie verkennen dabei jedoch, dass HTML gleichzeitig Authoring- und Auslieferungssprache ist, während bei PostScript am Ende die gedruckte Broschüre das Auslieferungsmedium ist. Und ja: Bei einer gedruckten Broschüre ist mir die Semantik des zugrunde liegenden InDesign/PDF wirklich egal. Aber bei offenen und interpretierbaren Medien wie HTML sind Flexibilität und Zugänglichkeit sehr wichtige Stichworte. Und beides erreicht man nicht durch eine Software mit dem Geiste der Druckvorstufenzeit, wie sie Muse darstellt.

In Zukunft wird der Anteil der codenden Webdesigner eher anstiegen: Suchmaschinenoptimierung, Webapplikationen, CMS, Mobile Web: All das sind Megatrends, auf die mit Muse kein Stück eingegangen wird! Ein Rückschritt sondergleichen! O Adobe, was ist aus dir geworden?