Richard Rutters „Web Typography“

Bücher über Typografie gibt es wie Sand am Meer! Bei der Webtypografie sieht das anders aus, und das schon seit Jahren. Doch mein britischer Bloggerkollege Richard Rutter hat es nun endlich auch getan: ein aktuelles Werk zu dem Thema geschrieben, welches mir selber besonders am Herzen liegt.

Dass mir Richard Rutter (alias @clagnut) erstmals im Netz aufgefallen ist, liegt exakt dreizehneinhalb Jahre zurück. Im Mai 2004 erschien sein legendärer Artikel über den Einsatz von em bei CSS-Schriftgraden. Es war die goldene Zeit der Webdesign-Blogartikel; beinahe jede Woche erschien ein wegweisendes How-To bei einem amerikanischen, britischen oder kanadischen Webdesign-Helden, und die ganze Welt lernte mit.

Später trat Richard Rutter als Gründer des Online-Schriftverleihs FontDeck erneut in Erscheinung. Der Service musste sich Ende 2016 leider gegen die Konkurrenz geschlagen geben. Er war vielleicht ein bisschen zu teuer.

Genau wie ich musste Rutter seit mehreren Jahren mit dem inneren Drang zurechtkommen, ein Buch über Webtypografie verfassen zu müssen, einem so dynamischen Thema im ständigen Fluss der Veränderung. Vier Jahre nach meinem eigenen Wurf namens #webtypobuch und ein Jahr nach Jason Santa Marias On Web Typography ließ es sich offenbar nicht mehr aufhalten: Eine Kickstarter-Kampagne im Sommer 2015 und zwei Jahre Wartezeit später halten wir seit ein paar Wochen das gedruckte Werk in den Händen. Zugegeben, das exzellent aufbereitete E-Book stand schon Anfang Mai 2017 zum Download bereit.

Wie viel Print steckt noch drin?

Jeder Webtypografie-Autor muss sich in der Planungsphase Gedanken darüber machen, wie viel klassische Typografie in seinem Buch Platz finden soll. Stellt man sich als Leserin eher eine typografisch erfahrene Person vor, die sich gewissermaßen nur das technische und gestalterische Delta zur Webtypografie aneignen möchte? Das war ein Stück weit mein Ansatz.

Oder sind auch Schriftlaien eingeladen, zunächst die allgemeingültigen typografischen Regeln kennenzulernen, um danach jeweils Codebeispiele und spezifische Erläuterungen fürs Web zu erhalten? Das ist der Ansatz, den Richard Rutter gewählt hat. Unter anderem (aber nicht nur) deshalb ist sein Buch Text auch fast dreimal so lang wie meiner.

Für absolute Neulinge kann Web Typography durchaus als solider Einstieg in die Welt der Serifen und Zeilenabstände fungieren, ganz unabhängig vom Webdesign mit seinen speziellen Tücken. Anknüpfungspunkte zur Vertiefung von Printthemen finden sich zur Genüge.

Der schreibt so schön!

Richtig beeindruckt hat mich der elegante, britisch-zurückhaltende und trotzdem präzise Schreibstil im Buch. Die Kapitel lassen sich wunderbar am Stück lesen, folgen zwar jeweils einem ähnlichen Muster, finden aber immer wieder individuelle Worte, um die Themen anzureißen, sie ausführlich genug zu erklären und ganz konkrete Handlungsanweisungen zu geben.

Insbesondere die Balance zwischen historischen Herleitungen (immer interessant), Probleme mit älteren Browsern (nur ganz vereinzelt) und zukunftsweisenden Techniken aus den letzten zwei Jahren ist hervorragend gelungen. Man fühlt sich wohlig eingebettet in elegante Worte voller Kompetenz. An manchen Stellen ist mir persönlich der Tonfall der motivational speeches ein wenig zu dick aufgetragen und gerät ins floskelhafte Pathos.

Die Illustrationen sind ästhetisch gut gelungen, könnten aus meiner Sicht aber zahlreicher sein. Ich weiß selber, wie viel Arbeit das macht, aber es lohnt sich! Ein wenig zu oft wird ein bestimmter Sachverhalt nur mit Prosa umschrieben, könnte mittels einer durchdachten Bebilderung aber noch präziser dargestellt werden.

Codeanteil

Das Verhältnis von konkreten Codebeispielen zu umschreibendem Text ist angenehm gering. Alles andere wäre auch unklug, schließlich ändert sich alles so schnell. Die alte CSS-Syntax für font-feature-settings hat als Fallback-Methode den Sprung in die Beispiele gerade noch geschafft, obwohl die neuere Syntax über font-variant in Zukunft alle Open-Type-Features übernehmen wird.

Das sind dann aber auch schon die komplexesten Abschnitte. Meist bleibt es bei simpelsten CSS-Notationen für einzelne Anwendungen, ohne unnötigen BEM- oder Sass-Spuk.

Unerwartete Schätze für alte Hasen

Hand aufs Herz: Wer von euch kennt die CSS-Längeneinheit ch? Und wem war klar, wie man recht komfortabel die Nummern einer ordered list unabhängig stylen kann? Jeder hat so seine Wissenslücken, und das vollständige Lesen eines Buches hat immer das wunderbare Potenzial, diese unbewussten Wissenslücken zu füllen. Ich kann bestätigen, dass dies auch im vorliegenden Fall wunderbar gelingt.

Zusammengefasst

Web Typography ist ein ausgesprochen komplettes Buch. Es behandelt in sehr ausgewogener Form alle gestalterischen und technischen Aspekte zum Thema, wobei der Schwerpunkt eher auf der Gestaltung liegt. Esoterische Spitzfindigkeiten wie PPOFLS (Perceived Performance Optimized Font Loading Strategies) oder das Font-Rendering unterschiedlicher Font-Formate in verschiedenen Versionen von Windows werden zwar gestreift, aber (zum Glück) nicht in voller Geek-Tiefe durchbesprochen.

Was mir tatsächlich fehlt, sind mehr zeitgenössische Beispiele für gelungene Webtypografie. Der Autor bleibt größtenteils auf der Theorieebene und zeigt selbstgebaute Beispiele von einzelnen Details. Eine Demonstration der Erkenntnisse im Rahmen von real existierenden Websites ist extrem selten und wäre doch gleichzeitig so anschaulich!

Qualität des E-Books

Neben dem in Eigenregie gedruckten Buch gibt es mehrere Versionen des Textes als E-Book. Einmal das Original-Layout als PDF (Doppel- oder Einzelseiten, jedoch ohne entsprechende Anpassung des Satzspiegels). Besonderes Lob verdient sich das Werk aber für die echten E-Book-Versionen im EPUB- und MOBI-Format. Diese enthalten die eingebetteten Originalschriften, sind vom Layout her an das Printdokument angelehnt und gleichzeitig mit freiem Textfluss konsumierbar. Selbst auf meinem hundert Jahre alten Kindle 4 kann man das Buch angenehm lesen. Das liegt unter anderem daran, dass – ähnlich wie beim #webtypobuch – sämtliche Illustrationen eher im Panorama-Format angelegt sind und stets über die volle Textbreite gehen.

Am meisten profitiert man natürlich unter iBooks auf Mac und iPad. Dies dürfte nach wie vor die mit Abstand beste Plattform zum Lesen von reichhaltig gestalteten EPUBs sein.