Ãœber Messbares

Wenn mir eines in den letzten Jahren klar geworden ist, dann dieses: Die Menschen lieben Zahlen. Messwerte. Tabellen. Vergleiche.

Als ich jünger war, wagte es meine favorisierte Computerspielezeitschrift Gamestar PC Player, auf ein Wertungssystem zu setzen, dass die Spiele mit einer simplen 5er-Skala zu bewerten versuchte, und den Leser somit dazu angehalten hatte, die Texte der Redakteure besser und aufmerksamer zu verfolgen. Völlig gegen den Trend, denn die ganze Welt setzte (und setzt bis heute) auf ein 100er-System, bei dem ein Spiel mit 84 Punkten einem Spiel mit 83 Punkten klar überlegen ist. Die differenzierten Meinungstexte sind nur am Rande interessant, allein die Endwertung ist wichtig. Deswegen setzte sich das 5er-System der Gamestar PC Player nicht durch, obwohl natürlich deutlich sinnvoller, weil Geschmacksfragen bei Videospielen einen sehr großen Teil ausmachen, oder anders gesprochen: Man kann die Güte eines Games nicht in so fein differenzierten Zahlen beurteilen.

Schlagen wir einen Bogen ins Web: In schöner Regelmäßigkeit erreichen mich weitergeleitete E-Mails von Kunden. Die Mails stammen von selbsternannten SEO-Experten, die die Websites meiner Kunden durch ein automatisches Prüftool wie beispielsweise seitwert.de gejagt haben und nun anhand der dort hinterlegten Prüfroutinen eine Aussage über die Suchmaschinenfreundlichkeit machen. Verwirrt fragen mich die Kunden, was das zu bedeuten habe, wenn sie nur 3/10 als Pagerank haben, und wenn der W3C-Validator fünf Fehler ausspuckt, und wenn keine Keywords »als Meta-Tag« enthalten sind. Hier wäre ja offensichtlich noch gehörig Optimierungspotenzial …

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Acid-Test, einem der am häufigsten missverstandenen Tools überhaupt. Oberflächlich agierende Webdesigner halten diesen One-Click-Schnellcheck für eine ausreichende Methode, um über die HTML5-Fähigkeiten eines Browsers urteilen zu können. Kaum jemand weiß jedoch genau, wie der Test funktioniert, und dass solch schwachsinnige Dinge wie SVG-Fonts abgeprüft werden, die man als Browser eher stolz sein sollte, nicht zu unterstützen.

Doch es ist eben verführerisch einfach, die Fähigkeiten eines Browsers auf eine Zahl reduzieren zu können. Genauso wie der unsichere Kunde sich über eine 0-Fehler-valide Website mit hohem PageRank freut. Genau wie der Spielefan sich anhand einer 92%-Wertung zum Kauf eines Games entscheidet, das ihm vielleicht gar nicht gefällt.

Die Oberflächlichkeit, die hier zu Grunde liegt, ist meines Erachtens ein großes Problem. Immer dann, wenn man Qualität scheinbar automatisch messen oder zumindest mit einem exakten Zahlenwert versehen kann, können wir unser Gehirn ausschalten und müssen uns nicht damit auseinander setzen, wie die Dinge wirklich sind. Die Welt ist aber tatsächlich komplexer und lässt sich nicht immer exakt messen. Kontext ist King.

Websites müssen nicht valide sein, solange der Webdesigner bei jedem einzelnen Fehler begründen kann, warum das so ist. (Es gibt da einige Gründe.) Ein Spiel mit 76er-Wertung ist oftmals einem 92er-Kracher vorzuziehen, weil jeder Zocker andere Schwerpunkte setzt. Ein Browser mit 100 Prozent im Acid-Test kann trotzdem unbrauchbar sein, wenn er träge startet oder nicht vernünftig mit Cookies umgeht.

Diesen Ausführungen folgend plädiere ich für mehr Prosa und weniger Tabellen. Mehr Meinung und weniger Testergebnisse. Mehr Tiefe und Verständnis statt schneller Vergleiche. Es würde uns allen gut tun.